Was hat es mit der Mumie auf sich?
Wunder oder Natur?

Er dürfte wohl eine der populärsten Leiche sein - jener mumifizierte Christian Friedrich von Kahlbutz, der, unter glasgedecktem Sarg im Gruftanbau der über siebenhundertjährigen Wehrkirche zu Kampehl liegend - braunlederne Haut über dürres Knochengestell gespannt -, inzwischen Millionen Betrachtern das Gruseln beibringen sollte. Oder manchem sogar beigebracht hat.

Legende, Unwahrheit und Aberglauben begleiten ihn allem Anschein nach unausrottbar, immerfort publizistisch kolportiert, ja selbst gegen bare Besichtigungsmünze dargeboten mit einem Erklärergemisch aus Ungenauigkeit und Sage, purer Erfindung und historischem Nonsens.
All das versehen mit leicht mystischer Verbrämung, zwar manchmal mit einem spöttisch gefärbten Unterton - doch wieviel Beschauern liegen nicht in der beengten Nähe mit einem dreihundertjährigen Leichnam geheimnisvolle Schauer hautnäher als harte, handfeste geschichtliche oder biologische Zusammenhänge?

Die Ironie der Erklärerin verliert sich im Grufthalbdunkel.
Was sie - bewußt oder unbewußt? - erlebnishungrigen Touristen aller Landstriche und Erdteile, was sie Familienausflüglern, Reisebürokarawanen und Schulklassengenerationen ins Unterbewußtsein suggeriert, ist ein Quentchen Wunderglaube und die Möglichkeit geheimnisvoller Dinge, die man sich zwischen dem Himmel über Neustadt an der Dosse und dem Erdboden nahe der Bundesstraße Fünf erträumen möge.

Und noch ehe die Kampehler Erklärerin die Tür schließt, an der ein Schild ein "biologisches Rätsel" offeriert, beendet sie ihre wissenschaftlichen Purzelbäume mit dem nur allzuoft unwidersprochen nachgedruckten kategorischen Salto mortale:
"Der Kahlbutz bleibt eben unerklärbar!"

Wie unerklärbar ist eine Leiche, die sich ohne nachzuweisende und offensichtlich nicht vorgenommene Sonderbehandlung so lange erhalten hat?
Wie unerklärbar ist der biologische Vorgang einer natürlichen Mumifizierung?

Über viele Jahrzehnte beschäftigte sich der Neuruppiner Facharzt für Allgemeinmedizin, Dr. Werner Neuparth, mit dem einst von der Kirche verkündeten "Gotteswunder" von Kampehl.
Er wußte in seinen Utersuchungen zu berichten, daß es dutzende in Deutschland und in der Welt massenweise Mumien gibt, die auf natürliche Weise entstanden sind.

Mit Erlaubnis und im Beisein des Pfarrers der Rheinsberger Kirche öffnete er vor Jahren in der dortigen Gruft zweiundvierzig eichene Särge.
Etliche enthielten Naturmumien, weitaus besser erhalten als die des Kahlbutz.
Er erinnerte auch an die zweiundzwanzig auf natürliche Art mumifizierten Leichen in der Kirchengruft Berlin-Buch, die schon Fontäne so ausführlich schilderte.
Doch der gleiche Fontäne, der mit Leidenschaft, durch derartige Verliese kroch, hielt den Herrn von Kahlbutz im vierten Band seiner "Wanderungen" lediglich einer Fußnote für wert.

Mumien sind eher Massenware als Sensation.
Im Bleikeller unterm Bremer Dom postieren sie sich gleich reihenweise.

"Eine natürliche Mumifizierung", erklärte der Neuruppiner Arzt, "kann allein durch ständigen kühlen Luftzug entstehen."
Und er beruft sich auf Erhängte, denen das "biologische Wunder" ebenso häufig widerfuhr wie Kindesleichen, die man früher oft erst nach längerer Zeit in luftdurchzogenen Strohscheunen entdeckte.
Eine zwar etwas makabre, doch immerhin den Umständen entsprechende Beweisführung.

Daß die Leiche, von der man annimmt, daß sie nicht einbalsamiert ist, dennoch erhalten blieb, ist eigenartig.
Man kennt heute eine Reihe natürlicher Vorgänge, die zur Erhaltung einer Leiche führen können.

Das kann geschehen durch Einwirken einer bestimmten Luft- oder Bodenbeschaffenheit, Ausdünstungen des Gesteins, Trockenheit oder Radioaktivität des Bodens.
Auch dicht geschlossene Eichensärge oder ständig bewegte trockene Luft können natürliche Mumien entstehen lassen.

Das kann auch geschehen, wenn der Tote zu Lebzeiten dauernd giftige Medikamente in kleinsten, für ihn unschädlichen Mengen einnahm.
Die Gifte brauchen unter Umständen heute nicht mehr nachweisbar zu sein, da im Laufe der Zeit sich viele Fettstoffe der Mumie chemisch veränderten oder verflüchtigten.

Das sind nur einige Beispiele.
Es gibt noch mehr Möglichkeiten, nur kann man nicht mit Sicherheit sagen, welche hier wirksam waren.
Das ist durchaus verständlich, denn seit der Beisetzung des Kahlbutz sind 300 Jahre vergangen und die Klärung solcher Vorgänge ist ein äußerst komplizierter Prozeß.

Grundfalsch ist jedoch, bei diesem natürlichen Vorgang von einem Wunder zu sprechen.

Nach heutigen Erkenntnissen kann man folgendes annehmen und kommt den Tatsachen sicher näher.
Kahlbutz litt an einer Krakkheit, die eine vollige Abzehrung bewirkte, wie Krebs, Muskelschwund oder Tbc.
Für letztere Krankheit spricht die Überlieferung, nach der Kahlbutz im eigenen Blut erstickte, also einem Blutsturz erlag, wie er infolge schwerer Lungenkrankheiten auftreten kann.
Die Leiche wurde in einem dichten Eichendoppelsarg beigesetzt.
Die begonnene Zersetzung wurde durch den geschlossenen Eichensarg, seine Ausdünstungen und dem mangelnden Nährboden der abgemagerten Leiche unterbunden.
So lederte die Leiche und wurde, obwohl nicht einbalsamiert, eine Mumie.

Die weltweite Popularität des Kampehler Feudalherren erkläre sich einmal aus der engen Baulichkeit der Gruft und die damit verbundene ziemlich unmittelbare Konfrontation des Besuchers mit Haut und Knochen des Verblichenen.

Für viele Besucher ist die Nähe zu einer Leiche, wie in der Kampehler Gruft, ein besonderer Nervenkitzel. Und der Anblick einer Mumie mit einem solchen geheimnisvollen Hintergrund dürfte wohl auch noch einen besonderen Reiz auf die Besucher ausüben.

Im dritten Band der neunzehnhundertzwölf erschienenen "Landeskunde der Provinz Brandenburg" kann man lesen:
"Vor den Richtern verschwor er sich, nie wolle er verwesen, wenn er's getan, und noch heute liegt er unverwest in der Gruft bei der Kirche. Haare und Nägel wachsen immerfort..."
Aber schon ein Medizinstudent des ersten Semesters kann erklären, daß durch den Schrumpfprozeß bei einer Leiche Haare und Nägel zwar deutlicher hervortreten, nie und nimmer jedoch weiterwachsen.

Was hat es mit dem Wunder auf sich?
Berühmte Wissenschaftler be- und untersuchten die spektakuläre Mumie.

Rudolf Virchow öffnete achtzehnhundertfünfundneunzig die linke Brustseite und entfernte zwecks Analyse ein Stück Haut.

Dreiunddreißig Jahre danach entnahm der Berliner Gerichtsmediziner Professor Dr. Strauch Leber- und Hautproben.

Auch Professor Sauerbruch bemühte sich um den verdorrten Junker.

Einmütige Expertise:
kein Balsam, kein Arsen, keine anderweitigen chemischen Mittel.

Nichts hätte den Lokalpatrioten von Neustadt an der Dosse gelegener kommen können.
Endlich herausgehoben aus der Unzahl deutscher Neustädte!
Man bot der verwunderten Welt ein "achtes Weltwunder", und man schrieb's sogar großartig an die Gruft.
So verlief der kürzeste Weg von einem mageren Leichnam zu einer fetten Einnahmequelle.

Leider war damit des Wunderns noch kein Ende.
Neunzehnhundertvierzig durchwühlte ein namentlich ungenannter Hamburger Professor die Sägespäne des Sarges angeblich nach mumifizierend wirkenden Mitteln. Statt dieser entdeckte er jedoch etliche halbvermoderte Stoffstreifen, die, sogleich als Ordensbänder identifiziert, dem Kahlbutz postum zum Propagandisten faschistischen Heldenmythos und gewissermaßen zur kriegswichtigen Mumie beförderten.
Wen es danach gelüstet, darf noch heute sieben der zweifelhaften Dekorationsreste an der Totenkammer-Stirnfront betrachten.
Desgleichen Lanze, Brustharnisch und Stiefel des nie vollkommen Dahingegangenen.
Selbstverständlich alles ganz echt, sofern man nicht weiß, daß beispielsweise die Stiefel schon mehrfach mit Souvenirjägern davonmarschierten.


TOP - nach oben